Die Dreigliederung

Die Dreigliederung des Sozialen Organismus

Drei Bereiche

Die soziale Dreigliederung beschreibt die Grundstruktur einer Gesellschaft, in der die Koordination der gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesse nicht zentral durch den Staat oder eine Führungselite erfolgt, sondern in der drei selbst verwaltete und relativ autonome Subsysteme sich gegenseitig die Waage halten.
Die drei Subsysteme oder auch Hauptbereiche der Gesellschaft sind:

  • das Geistesleben, das Bildung, Wissenschaft, Religion und Kultur umfasst, sowie die Zusammenarbeit der Menschen (verstanden als Kreativitätsfaktor, etwa die Kultur der Entscheidungsprozesse oder das Betriebsklima betreffend). Als Produktionsfaktor ist die Arbeit dem Wirtschaftsleben zuzuordnen.
  • das Rechtsleben, das Gesetze, Regeln und demokratische Vereinbarungen der Gesellschaft umfasst.
  • das Wirtschaftsleben, das die Produktion, den Handel und Konsum von Waren und Dienstleistungen beinhaltet.

Sie werden als autonom und gleichrangig, aber unterschiedlich in ihrem Wesen beschrieben. Jedem Hauptbereich wird ein Ideal der Französischen Revolution als leitendes Prinzip zugeordnet:

  • die Freiheit dem Geistesleben
  • die Gleichheit dem Rechtsleben
  • die Brüderlichkeit dem Wirtschaftsleben.


Geistesleben

Das Geistes- bzw. Kulturleben ist der Bereich der Freiheit, in dem Fähigkeiten entfaltet werden sollen um die Gesellschaft als Ganzes zu bereichern und zu entwickeln. Es ist der Bereich der Bildung, Kunst, Wissenschaft und Religion.

Rechtsleben

Im Rechtsleben gilt das Prinzip der Gleichheit, wo unabhängig vom sozioökonomischen Status die gleiche Rechte für alle Menschen gelten. In diesem Bereich verankern wir die Beziehung zwischen den Menschen als gleichberechtigte Individuen.

Wirtschaftsleben

Das Wirtschaftsleben beschreibt die Verwandlung der naturgegebenen Rohstoffe in Waren, die menschlichen Bedürfnissen dienen. Das Prinzip, welches das Wirtschaftsleben regelt, ist die Solidarität: Die Bedürfnisse der anderen werden durch meine Arbeit gedeckt, so wie meine Bedürfnisse durch die Arbeit der anderen gedeckt werden.

Kontext

Die anzustrebende funktionale Gliederung der Gesellschaft beruht auf einer durch Empirie errungenen Erkenntnis von den notwendigen Lebensbedingungen dieser drei gesellschaftlichen Bereiche. Erst in ihrer durchgreifenden funktionalen Trennung, können sie ihre eigenen Kräfte und Entwicklungsbedürfnisse voll entfalten, ohne dass ein Gebiet das andere in unberechtigter Weise dominiert und dadurch zu sozialen Komplikationen führt. Den Nationalstaat, der sich in einer nicht mehr zeitgemäßen Weise auf einen Volkszusammenhang beruft, gilt es, schrittweise zugunsten einer funktionalen Gliederung und einer Selbstverwaltung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, zu überwinden. An die Stelle eines zentralistisch verwalteten Einheitsgebildes tritt eine freie und solidarische, horizontal wie vertikal gegliederte Rechtsgemeinschaft.(1)

Mit diesem ordnungspolitischen Konzept skizzierte Rudolf Steiner eine Sozialordnung, von der er annahm, „dass in ihr Freiheit und Solidarität gleichermaßen zu verwirklichen sind und der Prozess fortschreitender Emanzipation nicht nur nicht behindert, sondern sogar positiv unterstützt wird„(2). Den Begriff des sozialen Organismus will Steiner nicht als Analogieschema zu natürlichen Organismen verstanden wissen. Diesen, in den Sozialwissenschaften seiner Zeit nicht ungebräuchlichen Begriff, verwendet er, weil er ihm am geeignetsten erscheint, den in fortwährender dynamischer Veränderung befindlichen Prozessen der sozialen Sphäre gerecht zu werden. Um diese komplexen Vorgänge realistisch zu erfassen, bedarf es nach Steiners Ansicht eines Übergangs von einer statisch-abstrakten zu einer lebendig-beweglichen, will heißen einer ‚organischen‘ Betrachtungsweise (3).

Im Zusammenhang des Ersten Weltkrieg, gegen Ende des Jahres 1917, hielt Rudolf Steiner Kontakt mit den führenden Persönlichkeiten auf politischem und kulturellem Gebiet Mitteleuropas und erläuterte seine Ideen, um an einer möglichen Lösung für die gegenwärtigen sozialen Konflikte zu arbeiten. Doch gerade die Dynamik des Krieges ließen Steiners Ideen nicht gedeihen. Am Ende des Krieges tauchte dieser Impuls wieder auf, aber nun mit neuer Kraft. Zu Beginn des Jahres 1919 wurde der „Aufruf an das deutsche Volk und die zivilisierte Welt“ (4) in den wichtigsten Zeitungen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs veröffentlicht. Dieser Aufruf hatte mehr als 250 Unterzeichnende, Menschen, die aus der kulturellen und wirtschaftlichen Welt anerkannt waren, und obwohl er nicht den erwarteten Erfolg hatte, inspirierte er verschiedene Initiativen, die mit dem sozialen Wandel verbunden waren, wie die Waldorfpädagogik, die Camphill-Bewegung, das ethische Bankwesen und mehr.



Literaturverweise

  1. Steiner, Soziale Zukunft, Dornach 1981, S. 151ff.
  2. Luttermann, J.: Dreigliederung des sozialen Organismus: Grundlinien der Rechts- und Soziallehre Rudolf Steiners, Frankfurt/M.:Lang, 1990 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 31, Politikwissenschaft; Bd. 162) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1989, Vorwort I.
  3. a.a.O., S. 7 u.155.
  4. Steiner, Aufruf an das deutsche Volk und die zivilisierte Welt, Dornach 1919

Videos zur Feier von 100 Jahre Dreigliederung (2019)