An die runden Tische!
Gerald Häfner zu Perspektiven aus der demokratischen Krise in Deutschland. Das Gespräch führte Wolfgang Held.
Wie hast du die Wahlergebnisse Thüringen, Sachsen und Brandenburg aufgenommen?
Gerald Häfner Als Spiegel einer dramatischen Entwicklung, die es zu verstehen gilt. Und persönlich: sehr betroffen. Wenn man an sich heranlässt, welche Denk-, Rede- und Verhaltensweisen da von immer mehr Menschen unterstützt werden, stimmt das sorgenvoll. Wenn zunehmend Menschen Kräften die Stimme geben, die kaum noch Differenzierungen oder Sachargumente kennen, wenn es nicht mehr einzelne Menschen, sondern nur Gruppen, Kollektive sind, über die sie urteilen, dann habe ich das Gefühl: Es hat sich in Deutschland Dramatisches verändert. Die Stimmung ist aggressiv geworden, feindselig, dumpf. Der öffentliche Diskurs öffnet sich gefährlichem Gruppendenken. Die jeweils andere Seite wird so negativ gesehen, dass ihr Menschsein zurückweicht. Die Unduldsamkeit nimmt zu. Das macht mir Angst.
Ist es eine neue Kategorie?
Eher ein Rückfall. In meiner Jugend musste ich noch hören: «Unterm Hitler hätt’s des ned geb’n!» oder «So was wie du gehört vergast!» – vermutlich wegen meiner langen Haare. Ich hielt diese bedrohliche Stimmung für Reste einer finsteren Zeit. Ich war sicher, das läge bald hinter uns. Tatsächlich wurden wir zivilisierter, lernten, Aufgeschlossenheit und Interesse füreinander zu entwickeln, sogar, einander mehr zuzuhören und eigene Standpunkte infrage zu stellen. Es ist immer merkwürdig in der Geschichte, wenn sich etwas scheinbar zurückentwickelt. Wenn etwas wiederkehrt, was schon einmal seine Fratze erhoben hat und in seiner furchtbaren Konsequenz sichtbar wurde, dann erschreckt das doppelt. Das beobachten wir überall und auch außerhalb Europas.
Das ist wohl die Angst über den Verlust des bürgerlichen Lebens. Was sind heute die Ursachen für Empörung?
Das hat viele Gründe. Die Strukturveränderung der Öffentlichkeit ist einer. Mit ihr: die Filterblasen, programmierte Belohnung des Extremen, Abgrund zwischen den Weltbildern, Verlust an Vertrauen, Verschwinden des Gesprächs. Vielleicht noch gravierender ist die Angst. Wer den Status quo radikal infrage stellt, erntet Empörung, Wut, Abwehr. Heute tut das nicht eine aufmüpfige Generation, sondern das Leben, die Politik, die Ökonomie selbst. Die Welt ist verunsichernd, ja bedrohlich geworden in ihren Abläufen. Das führt zu Verunsicherung eines immer größeren Teils der Bevölkerung.
Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Webseite der Wochenschrift lesen. Falls Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Wochenschrift für 1 CHF/€ kennenlernen.
weiterlesenTitelbild Demonstration vor dem Rathaus in Plauen am 30. Oktober 1989. Bundesarchiv. Foto: Wolfgang Thieme, CC BY-SA 3.0 DE