Michail Gorbatschow

Michail Gorbatschow

20 September 2022 Gerald Häfner 2108 mal gesehen

Zum Tod des Brückenbauers zwischen Ost und West. Ein Gespräch mit Gerald Häfner. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Was dachtest du, als du vom Tod von Michail Gorbatschow erfahren hast?

Die tiefe Tragik dieses Lebens! Michail Gorbatschow ist in meinen Augen einer der größten, vielleicht der größte Politiker des 20. Jahrhunderts. Er leistete Unglaubliches – und erntete in seiner Weltregion vor allem Undank und Unverständnis. Jetzt ist er beschämend vereinsamt, missachtet, von der Mehrheit seiner Landsleute sogar regelrecht verhasst gestorben. Damit verbunden ist eine zweite Tragik, die ich als noch größer empfinde. Sie hängt mit der Frage zusammen, was heute aus seinem grandiosen Impuls geworden ist. Gewiss: Indirekt, in manchem zunächst auch unbeabsichtigt, hatte Gorbatschows Mission planetare Dimensionen. Doch sie galt zuerst seinem Land und seinen Mitmenschen. Sie wollte er aus der Drangsal einer antihumanen, totalitären Gesellschaft befreien. Die Sowjetunion und Russland zu demokratisieren, sie zu öffnen für geistige Freiheit und Pluralität wie für eine freie und zugleich soziale Wirtschaft, das totalitäre, statische System umzubauen in eine von den Menschen selbstbestimmte, entwicklungsfähige Ordnung, das war Gorbatschows Ziel. Und heute? Regiert Putin immer einsamer und unbelehrbarer, autoritär, aggressiv, ja totalitär nach innen und außen und führt Krieg. Wer wagt, die Dinge beim Namen zu nennen, muss seine Freiheit gegen Gefängnis eintauschen. Der Verlauf der Geschichte ist manchmal grausam. 30 Jahre nach dem großen politischen Tauwetter durch Michail Gorbatschow wird dieses größte Land der Erde von Kräften beherrscht, die nicht für das stehen, was er anzustreben versucht hat.

1985 wurde Gorbatschow Generalsekretär der KPDSU und damit Regierungschef und wir lernten, was ‹Glasnost› und ‹Perestroika› bedeuten. Was bedeutete es für dich als politischen Aktivisten im Kalten Krieg?

Der Kalte Krieg wurde immer gefährlicher. Mitte der 80er-Jahre hatten wir einen 50-fachen Overkill. Das heißt: Das Arsenal an atomaren, biologischen und chemischen Waffen in Ost und West war so gewaltig, dass man damit die Menschheit 50 Mal hätte ausrotten können. Zudem wurden die Vorwarnzeiten immer kürzer. Ich habe damals in der Friedensbewegung gekämpft. Wir traten für einseitige Abrüstung ein. Wir haben erklärt: «Ich bin bereit, ohne den Schutz militärischer Rüstung zu leben!» Wir waren überzeugt, dass wir es sein müssten, die beginnen, dann würde die andere Seite folgen. Die damalige Regierung erklärte uns für naiv und gefährlich. Schließlich hatten alle Angst vor der Sowjetunion bzw. den Russen. Sie sagten: Selbst wenn der Westen abrüsten würde, die andere Seite würde das ausnützen.

Dann geschah das Unglaubliche: Der Generalsekretär der als größte Bedrohung geltenden Sowjetunion erklärte vor der französischen Nationalversammlung, erklärte im Deutschen Bundestag, erklärte im amerikanischen Kongress, wir müssten das Wettrüsten beenden. Die Sowjetunion werde deshalb einseitig Atomraketen abziehen, und er schlage vor, dass die andere Seite das Gleiche tue. Er änderte die Welt und den Lauf der Geschichte. Und: Der Mann sprach nicht kalt, berechnend, im Kalkül, sondern offen, ehrlich, vom Herzen. Man spürte: Der meint es ernst. Was kein westlicher und kein europäischer Politiker gewagt hatte, er, Gorbatschow, hatte den Mut dazu. Man spürte eine ungeheure Freude um den Erdball gehen.

Dieser Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der in der Wochenschrift ‹Das Goetheanum› veröffentlicht wurde. Sie können den vollständigen Artikel auf der Website der Wochenschrift lesen.

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