Wie das Goetheanum Flagge zeigt
Der Anthroposophie weht in den Medien seit Monaten ein rauer Wind entgegen. Mit Gerald Häfner, Mitglied der Leitung des Goetheanum in Dornach/Schweiz, haben wir einen Blick auf die Stellung der Anthroposophie in der Öffentlichkeit geworfen. Wie kann man auf Angriffe reagieren, ohne das Wesentliche aus den Augen zu verlieren?
Etwa seit Rudolf Steiners in der Öffentlichkeit stark wahrgenommenem 150. Geburtstag im Jahr 2011 konnte man den Eindruck haben, dass Anthroposophie und ihre Praxisfelder in der Gesellschaft angekommen sind und eine überwiegend positive Resonanz gefunden haben. Jetzt in der Corona-Zeit sind aber zum Beispiel Rassismusvorwürfe gegen die Anthroposophie wieder ganz stark an die Oberfläche gekommen. Selbstverständlich, über Stellen im Werk Steiners, wo Menschen mit bestimmten Hautfarben abgewertet werden, muss man auf jeden Fall kritisch sprechen, aber inzwischen wird man auch als Anthroposoph ausgegrenzt und verächtlich gemacht. Haben wir es da eigentlich mit einer Form von Diskriminierung zu tun?
Das Thema hat viele Schichten und diese Schichten verlangen einen ganz unterschiedlichen Blick. So ist die Gefahr groß, dass man nur die eine oder die andere Seite sieht. Ein Aspekt an der Sache ist dieser: Ein Stück weit hat die Zunahme öffentlicher Angriffe und öffentlicher Stigmatisierung tatsächlich damit zu tun, dass die Relevanz von Anthroposophie und anthroposophischer Praxis gestiegen ist. Wenn du eine Strömung hast, die dir suspekt ist, dann ist die erste Strategie immer: Ignorieren, nicht thematisieren und abwarten, dass sie sich irgendwie totläuft oder in einem marginalen Bereich bleibt. Wenn sie aber wächst, dann muss man was unternehmen, und dann werden natürlich alle Instrumente ausgepackt. Das wirksamste und schlimmste Instrument, das man zur Stigmatisierung anwenden kann, ist in Deutschland der Vorwurf von Rassismus oder Antisemitismus. Und an der Stelle möchte ich mit großer Entschlossenheit und großem Nachdruck sagen: Rudolf Steiner war kein Rassist und kein Antisemit. Er war eigentlich das Gegenteil von beidem. Es gibt zu seiner Zeit wenige Menschen, die sich so radikal für die Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen und gegen jedes Gruppenurteil, gegen jede Form von Nationalismus oder Rassismus eingesetzt haben. Die Grundintention bei Rudolf Steiner und die Grundintention auch der Anthroposophie ist die Freiheit des Einzelnen, die Entwicklung der Individualität, und gleichzeitig Gesellschaft zu denken als eine weltweite, die Ökologie als eine weltweite und unsere weltweite Verantwortung dafür. Deswegen sieht man auch durchgängig Anthroposophen immer wieder in zivilgesellschaftlichen und anderen Initiativen, die sich für Frieden, für Menschenrechte, für solidarischen Handel, für einen besseren Umgang mit Behinderten oder Ausgegrenzten und so weiter einsetzen. Ich halte also diesen pauschal erhobenen Rassismus-Vorwurf schlechterdings für üble Nachrede und sogar für einen Versuch einer gruppenbezogenen Diskriminierung, der nicht berechtigt ist. Es ist interessant: Mit dem Gestus der Antidiskriminierung wird der Anthroposophie Rassismus untergeschoben – und damit munter diskriminiert.
Im Frühjahr 2021 gab es einen Artikel in der Zeit, in dem eine Begriffskette geschlossen wurde von angeblicher Wissenschaftsfeindlichkeit zu Anti-Intellektualismus und zu Antisemitismus. Das ist ja eine Wolkenbrücke. Die sind gegen Chemie auf dem Acker, also sind sie Antisemiten, denn das war schon einmal so. Das ist doch üble Nachrede. Wie kann man sich denn gegen so etwas zur Wehr setzen?
Als erstes muss man erkennen, dass man nicht nicht kommunizieren kann. Nichts zu sagen zu solchen Vorwürfen, zu schweigen, sich wegzudrehen, ist auch eine Form der Kommunikation. Das heiß also: Wir müssen kommunizieren. Doch wie können wir kommunizieren? Anders als vielleicht die katholische Kirche oder manche anderen Organisationen kann die Anthroposophische Gesellschaft nicht ex cathedra bestimmte Positionen zu gegenwärtigen Zeitfragen einnehmen oder verkündigen. Es können immer nur einzelne Menschen Positionen haben. Doch wo es um nötige Richtigstellungen geht, erheben wir auch die Stimme, wie zuletzt hinsichtlich des Rassismusvorwurfes. An dieser Stelle muss ich sagen: Es gibt leider auch anthroposophischerseits mitunter Positionen, Äußerungen und Verhaltensweisen, die die Angriffe befeuern, etwa wenn komplexe Debatten lediglich mit Verweis auf ein zwei Zitate von Rudolf Steiner geführt werden, ohne dass man selbst nachvollziehbar argumentieren kann. Das diskreditiert Anthroposophie in erheblichem Maße. Denn Anthroposophie ist etwas, wo ich mich auf einen Weg des Erkennens begebe; und was ich nicht erkennen kann, das weiß ich eben (noch) nicht. Das muss man unterscheiden können.
Da gibt es auch noch einen größeren Zusammenhang. Seit den 2000er Jahren haben sich Menschen, die sich für Spiritualität interessieren, immer deutlicher auch in der Öffentlichkeit artikuliert. Es gibt eine nicht mehr ganz kleine Bevölkerungsgruppe, für die das ein Thema ist und die Alternativen zum materialistischen Mainstream sucht. Was jetzt passiert, erlebe ich als großen Gegenschlag gegen diesen Aufbruch. Angesichts der Schärfe dieser Attacken kann einem Angst und Bange werden, bis hin zu der Sorge, wir könnten auf eine Zeit zulaufen, wo man Anthroposophie wieder wie in der DDR in Hinterzimmern pflegen muss.
Tatsächlich stehen wir als Menschheit insgesamt an einer Wegscheide, an einem Schwellenübertritt. Unbewusst hat im Denken und Empfinden der Leute längst die Ahnung Raum gegriffen, dass ein rein reduktionistisches Weltbild, das nur auf das Tote, auf das Zählbare, Messbare abstellt, die Wirklichkeit nicht voll erfassen kann. Ich sehe die Krisen der letzten Jahre – soziale Ungleichheit, Finanzkrise, ökologische Krise, Klima-Krise, Corona-Krise – als Ausdruck dieser Tatsache, oder positiv formuliert: Als eine Anfrage an uns Menschen, ob wir aus dem Gefängnis des rein toten, reduktionistischen Bewusstseins uns endlich befreien können. Wir haben die Verbindung verloren, zu uns selbst, zueinander – die Gesellschaft zerfällt immer mehr –, und zur Natur. Wie werden wir wieder fähig, uns mit der Welt zu verbinden? Es geht eigentlich um die Frage, ob wir das materialistische, reduktionistische Weltbild ergänzen, verwandeln, erweitern können um ein spiritualisiertes, um ein Verständnis des Lebendigen. Das hieße, dass ich in allem Wesenhaftes erlebe, in der Pflanze, im Tier, in der Erde, im anderen Menschen. Und dass ich begegnungsfähig werde, also, dass ich dich nicht nur als Objekt meiner Interessen sehe, sondern in deiner Eigenpersönlichkeit erlebe und begreife – und das genauso im Hinblick auf die Natur. Früher war das noch der Fall, da lebten die Menschen in dieser All-Einheit, All-Verbundenheit, da war der Baum eine Persönlichkeit, ein Wesen. Uns ist er nur noch Holz geworden, und das Wasser H2O. Aber wir merken, dass wir mit diesem abstrakten Bewusstsein die Erde zerstören. Können wir ein anderes Bewusstsein entwickeln? Hier kann Anthroposophie den Weg weisen. Derzeit tobt eine Auseinandersetzung zwischen denen, die das Neue vorbereiten wollen, und denen, die am Alten unter allen Umständen festhalten wollen. Corona ist ein Beispiel.
Aber das Überwinden dieses wissenschaftlichen Weltbildes muss nach vorne gehen und nicht nach hinten, das heißt, die Klarheit des Erkennens und Verstehens muss mitgenommen und erweitert werden, anstatt in ein unwissenschaftliches Raunen zu führen. Denn ein solches Raunen trifft auf die verbreitete und berechtigte Angst vor Irrationalität. An dieser Stelle hat die Anthroposophie eine Aufgabe: Sich selbst ernst zu nehmen als einen rationalen Weg der Erweiterung wissenschaftlicher Erkenntnis: Seelisch-geistige Erkenntnis nach naturwissenschaftlicher Methode. Und nicht als ein Zurückfallen hinter diese Methode.
Das ist ein Kulturkampf eigentlich, was da lärmt.
Und dieser Kampf wird immer schärfer, das ist ganz deutlich. Aber der größte Teil der Öffentlichkeit ist nicht Partei in diesem Kampf, die meisten Menschen versuchen, sich irgendwie zwischen den Polen zu orientieren. Der erwähnte Artikel in der Zeit wird vielleicht von 300 000 Menschen gelesen. Die lesen jetzt diese Behauptungen. Damit ist auch eine Anfrage an uns Anthroposophen verbunden. Viele möchten nun wissen, wie es wirklich ist: Wie steht ihr zur Frage der Wissenschaftlichkeit, zur Frage des Rassismus, wo steht ihr, liebe Anthroposophen? Da müssen wir kommunizieren. Wenn ich also antworte, dann antworte ich eigentlich nicht für den Autor, sondern für die Leser. Sonst gehe ich in die Falle. Ich darf mich gar nicht in Abwehrschlachten verfangen, sondern ich muss eigentlich offensiv aus diesem Neuen heraus sprechen. Die Menschen müssen erleben lernen, wie anthroposophisch gedacht, gesprochen und gehandelt wird. Das ist eigentlich das Wichtige. Das haben wir aktuell zum Beispiel mit dem Projekt Goetheanum-TV versucht, wo wir Videos mit Gesprächen zu aktuellen Fragen online stellen. Kann ich Krankheit anders verstehen? Kann ich Wirtschaft anders verstehen, Geld anders verstehen, Demokratie anders verstehen? Kann ich den Menschen und die Natur anders verstehen – und daraus handeln?
Interview Anna-Katharina Dehmelt und Jens Heisterkamp
Dieses Interview erschien erstmals in der Novemberausgabe 2021 der Info3
Titelbild Frühling am Goetheanum, Foto: Xue Li